Donnerstag, 19. Mai 2016

For you are a woman and your part is in the house

Über Éowyn, Einsamkeit und das Gefühl, nutzlos zu sein


(„All your words are but to say: you are a woman, and your part is in the house. But when the men have died in battle and honour, you have leave to be burned in the house, for the men will need it no more.“)


Ich muss zugeben, dass ich bei dem Dialog in „Die Rückkehr des Königs“ ein bisschen mit mir gerungen habe, um nicht die Augen zu verdrehen oder meinen Kopf auf die Tischplatte zu schlagen. Es ist natürlich ein emotionaler Dialog, den Éowyn da mit Aragorn führt, und obwohl Éowyn da teilweise sehr wie der Teenager klingt, der sie wohl auch noch ist, so fühlt man doch in gewisser Weise mit.
Zumindest, bis sie sich schließlich am nächsten Morgen umwendet und „stumbling, as someone who is blind“ wieder in das Haus zurückkehrt.
Meine ersten, spontanen Gedanken dazu waren nicht sehr einfühlsam, denn das, was mir da spontan durch den Kopf schoss (und ich habe beinahe triumphierend gegrinst, als ich das dachte), war: „Nun, das wäre eine günstige Gelegenheit, um sie zu trösten. Sie ist einsam. Sie bräuchte jemanden, mit dem sie über all das reden kann.“ (Ja, Gríma, sicherlich nicht Euch. Vor Allem, da Eure Absichten auch nicht wirklich auf „Trösten“ hinauslaufen würden.)
Wobei ich zugebe, dass er da doch recht hat – Éowyns größtes Problem ist wohl eigentlich ihre Einsamkeit. Wen hat sie schon, mit dem sie über ihre Probleme und die immense Verantwortung, die auf ihr lastet, reden kann? Hat sie Freundinnen? Zofen? Mit Éomer scheint sie nämlich nicht geredet zu haben.
Manchmal glaube ich, dass Faramir in den Häusern der Heilung tatsächlich der Erste ist, mit dem sie mehr oder weniger offen reden kann. Davor hatte sie niemanden. (Denn auch, wenn Gandalf ja in den Häusern der Heilung andeutet, dass Gríma womöglich öfter mit Éowyn geredet hat, so waren das wohl mehr egoistische Tendenzen als ein wirkliches Interesse daran, sie zu verstehen. Was mir auch aufgefallen ist, ist, dass keiner der beiden den Anderen erwähnt oder jemals irgendeine Meinung über den anderen verlauten lässt. Das sind immer nur dritte Personen, die die Beziehung zwischen den beiden charakterisieren – auf der anderen Seite haben beide wohl viel mehr mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, als es sich leisten zu können, in Erinnerungen zu schwelgen. Zudem ist keiner der beiden eine Hauptperson).
Ich glaube nämlich, dass die Einstellung von Éowyn womöglich einfach ein großes Missverständnis ist. Sie sagt, sie möchte in die Schlacht reiten, um Ruhm und Ehre (ich bemühe mich, nicht die Augen zu verdrehen, ich bemühe mich wirklich) zu erringen. Schön und gut. Jeder hat das Recht darauf, seinen eigenen Wünschen und Träumen nachzuhängen, sofern man niemandem damit schadet.
Aber gibt Théoden ihr nicht ein Schwert und einen Harnisch, bevor er nach Helms Klamm aufbricht? Überträgt er ihr nicht die Aufgabe, auf sein Volk aufzupassen, es zu beschützen? Ist es nicht auch ehrenvoll, ein Volk zu beschützen und es in Sicherheit zu führen?
Auf der anderen Seite werden über Beschützer kaum Lieder gesungen, nicht wahr? Lieder werden nur über ruhmreiche Schlachten und ihre Helden gesungen, wobei es da wenig Unterschied macht, ob diese Helden noch leben oder schon tot sind.
Ich würde sie manchmal gerne fragen (und werde es an anderer Stelle sicherlich durch Gríma auch tun): „Und was nützen Euch die Lieder, wenn Ihr selbst in der Schlacht gefallen seid? Was nützt es Euch, dass über Euch gesungen wird, wenn Ihr selbst es doch nicht mehr hören könnt?“ Worauf sie sicherlich etwas in der Art von „aber immerhin bleibe ich dann unsterblich und habe etwas geschafft“ erwidern würde, während ich wieder einen Anfall von Augen-verdrehen habe und mich frage, was genau ich eigentlich damals (und auf eine gewisse Weise doch immer noch, obwohl ich es nicht will) an ihr so faszinierend fand.

Doch aus ihren so stolzen Worten spricht, finde ich, womöglich noch etwas Anderes. Nicht nur die Einsamkeit, nicht nur die Furcht, zurückgelassen zu werden. Denn wovor fürchtet man sich ebenfalls; was bedeutet es, zurückgelassen zu werden? Welche unterschwellige Botschaft wird einem dadurch überbracht? Was für eine Wahrheit könnte man hinter den beruhigenden Worten „es ist zu deinem Schutze, ich möchte nicht, dass dir etwas passiert“ sehen?
„Du bist nutzlos. Wir können dich in einer Schlacht nicht gebrauchen, du würdest uns behindern. Wir lassen dich zurück, weil wir keinen Nutzen für dich haben.“
Sie sagt es schließlich selbst: „But when the men have died in battle and honour, you have leave to be burned in the house, for the men will need it no more.
Und das Schlimmste dabei wird wohl gewesen sein, dass sie das nie genau so zu hören bekommen hat. Merry kann man offen ins Gesicht sagen, dass er eine Last sein wird, der kann das sicherlich verkraften. Aber Éowyn – nein, sie ist eine Frau, da muss man Worte vorsichtig verpacken. Sagt lieber, dass sie zu ihrem eigenen Schutz dableiben soll, oder zum Schutz des Volkes, auch, wenn sie das falsch auffassen könnte. Sie hat ja gerade mal neun Jahre der Lügen hinter sich, sie wird da schon nichts Falsches rein interpretieren. :D
Ich muss schon wieder so sehr grinsen, weil ich das Gefühl habe, wieder einen wunden Punkt getroffen zu haben. Weshalb macht mir das Spaß?
Was sagt Éowyn nochmal, als sich ihr Gemüt wandelt und auf einmal die Sonne auf sie scheint? „Ich möchte eine Heilerin sein und alles lieben, was lebt und wächst.“ (Ich höre da Goldbeere mit heraus, aber das nur nebenbei.) Als Heilerin/Fürstin von Ithilien hat sie eine Aufgabe, der sie nachgehen kann. Sie hat etwas zu tun; etwas, in dem sie auch den Sinn sehen kann, weil andere ihr für ihre Arbeit danken und ihr Respekt entgegenbringen.
Was hatte sie in Edoras? Die undankbare Aufgabe, sich um ihren kranken Onkel zu kümmern, der ihre Bemühungen nicht mal richtig wahrgenommen hat. Ansonsten: Schön aussehen und herumstehen und sich um den Haushalt kümmern, weil sie nach Elfhild die einzige Frau im Haus ist. Wirklich aktiv etwas tun, das Land beschützen – das machen Éomer und Théodred und die anderen Männer; sie ist in der „Reserve“. Und sie wird nur die Lieder und Gespräche hören; vielleicht sogar diese in ihren Gedanken ruhmreicher erscheinen lassen, als es ist. Sich selbst ein bisschen die Wahrheit verdrehen, denken, dass die Männer voller Ehrgefühl für ihr Vaterland starben und nicht mit den verzweifelten Gedanken an Frau und Kinder.
Denn was hat sie selbst für eine Familie? Sie hat eine Familie, die sie von ganzem Herzen liebt und die sie beschützen möchte, kann dies jedoch nicht tun.
For you are a woman and your part is in the house.

Kein Wunder, dass sie sich gleich Aragorn an den Hals wirft, denn was strahlt Aragorn in seiner abgerissenen Kleidung und dem Elbenmantel aus? Fremdheit. Eine gewisse Exotik. Erfahrung, Weisheit, innere Stärke, Zähheit, Selbstsicherheit, verstecktes Königtum (ich zähle das alles gerade nicht ohne ein gewisses Zähneknirschen auf). Er verspricht ihr all das, was sie immer wollte, jedoch nicht haben konnte. Sie ist selbst bereit, die Pfade der Toten für/mit ihm zu beschreiten, obwohl diese in der rohirrischen Geschichte ein äußerst dunkles Omen zu sein scheinen und nur von Tod sprechen. (Wen wundert es auch bei Baldor und seinem dummen Schwur?)
Ich glaube nicht, dass sie damit gerechnet hat, dass Aragorn die Pfade tatsächlich durchschreitet, um unversehrt wieder herauszukommen; sie hat wahrscheinlich gedacht, dass er die Hoffnungen verloren hat und diesen Pfad wählt, um in den Tod zu gehen.
Und spiegelt das nicht schön ihre eigene Verzweiflung wider? Sie, die sie dadurch wieder in ihr Gefühl der Nutzlosigkeit versinkt, dazu verdammt, zuzusehen, wie alle anderen in den sicheren Tod reiten? Sie hat sich wahrscheinlich gesagt, dass jetzt ohnehin alles egal ist und hat sich unter die Reiter gemischt. Wenn Théoden schon in Dunharg/Edoras (so genau weiß ich das nicht mehr) ständig davon spricht, dass er das Gefühl hat, er werde nicht zurückkommen, weshalb sollte sie selbst das nicht auch entscheiden dürfen?
(Ich finde ihre Entscheidung immer noch ein bisschen übertrieben, aber nun gut. Sie ist eben gerade mal 24 Jahre alt und impulsiv und lebte in einer anderen Zeit. Ich kann noch nicht mal sagen, dass sie sehr behütet aufwuchs, denn ihre Eltern starben schließlich, als sie gerade mal sieben Jahre alt war.)
Und jetzt, wo ich mir all das so anschaue, frage ich mich unwillkürlich, ob Gríma sie auf seine Seite hätte ziehen können. Mit den richtigen Worten, auf die offensichtlichen Lügen der anderen anspielend; beiläufig bemerkend, dass niemand sie so wirklich ernst zu nehmen scheint.
Obwohl ich nicht glaube, dass das geklappt hätte. Der Gríma im Buch scheint mit seinem ständigen populistischen Gerede nicht halb so geschickt gewesen zu sein, wie er sich in meinem Headcanon entwickelt hat. (Schonmal das Wort subtlety gehört, Gríma? Nein? Dachte ich mir. Wie habt Ihr das neun Jahre lang geschafft? Und weshalb hat da niemand was gegen unternommen, wenn es doch so ziemlich alle wussten? D:)
Zudem wäre da Éowyn selbst, die, wie fast alle Eorlingas, äußerst treu und loyal hinter ihrem König steht und sich niemals, niemals gegen ihn wenden würde. Schon gar nicht gegen ihren Bruder oder gegen andere Vertraute. (In den Anhängen wird schließlich erwähnt, wie die Versuche, Zwietracht zwischen Éomer und Théodred zu sähen, kläglich scheiterten.)
Außerdem, hätte das einen Unterschied gemacht, außer den, dass Éomer noch mehr Grund gehabt hätte, das Gesetz der Halle zu missachten und Blut zu vergießen? Wahrscheinlich nicht. Éowyn hat zu wenig Einfluss, da Gríma den König schon recht gut unter Kontrolle hatte und Théodred zuuuufällig in einen Hinterhalt geriet und erschlagen wurde. (Hups. Kann mal passieren.) Mit Éomer scheint sie ja nicht geredet zu haben, das hätte keinen wirklichen Vorteil gehabt.
Wo wir wieder zu der Frage kommen, mit wem sie denn überhaupt geredet hat. Mit niemandem, anscheinend, und in „Die Zwei Türme“ ist sie in meiner Erinnerung auch sehr still. Erst in der „Rückkehr des Königs“ redet sie mehr, was wohl auch daran liegt, dass sie mehr vorkommt und mehr Zeit zum Reden hat.
Aber sie sagt nicht viel über sich selbst. Klar, es herrscht Krieg, da möchte man Andere auch nicht unbedingt mit eigenen Problemen zumüllen, weil man an das Gesamtbild denken muss. Das, was sie sagt, sind meist entweder Kommentare zur aktuellen Situation oder Erklärungen. Und als Dernhelm sagt sie ja gleich gar nichts, sondern verbringt die ganze Zeit bis zur Schlacht schweigend.
Sie ist schon jemand, die die eigene Person zurückhält und eigentlich sehr sozial ist, die mehr an Andere als an das Eigene denkt. Sie erzählt Éomer nie etwas von ihren eigenen Problemen, der schließlich so überrascht reagiert, als er a) sie auf dem Schlachtfeld findet und b) Gandalf ihm von ihren Problemen in den Häusern der Heilung erzählt, wo er mit ganz anderen Augen auf sie blickt. Sie kümmert sich die ganze Zeit selbstlos um Théoden und beschwert sich nie über diese Pflicht. (Nur eben später einmal Aragorn gegenüber, wo das alles, gewissermaßen, aus ihr herausplatzt.) Das Pflichtgefühl ist stark in ihr.


Ich selbst bin mir sehr unsicher ihr gegenüber. Jetzt, wo ich sie ein bisschen mehr analysiert habe, sehe ich doch so einige Parallelen mit mir selbst, auch, wenn ich das nicht recht wahrhaben möchte. Ich mache mich über sie lustig, ich ärgere mich sehr oft über sie und möchte sie teilweise gerne einfach von mir stoßen, sagen: „Gut, war eine nette Zeit, aber das Kapitel ist abgeschlossen. Punkt, aus, Ende. Vergiss sie, sie nervt nur noch.“ Nur ist das nicht ganz einfach, da ich ja doch immer wieder über sie in verschiedenster Form stolpere, sei es durch zufällig auftauchende Bilder oder durch Texte oder ganz einfach den Fakt, dass meine Protagonisten ein bisschen über sie nachdenken. Oder, dass ich mich durch irgendetwas an sie erinnert fühle und dann assoziiere.
Ich möchte mich von ihr lösen, aber ich kann nicht. (Und ich werde anscheinend auch nicht müde, einfach immer wieder darüber zu jammern. Man könnte ja fast glauben, dass mir das Spaß macht; ich glaube aber eher, dass es daran liegt, dass ich es nicht verstehe und verstehen möchte, weshalb das so ist. Denn ich verstehe es wirklich nicht; andere Figuren kommen und gehen, ohne solch einen emotionalen Schaden zu hinterlassen. *um es mal übertrieben auszudrücken*)
Sie ist mir nicht sympathisch. Das war sie mal, aber ist es nicht mehr. (Ich hatte mal in einer Mail geschrieben „ich glaube nicht, dass ich sonderlich gut mit ihr zurechtkommen würde, würde ich im echten Leben auf sie treffen, oder jemanden, der ähnlich ist wie sie. Nein, das würde nicht funktionieren.“) Ich verstehe teilweise ihre Gefühle, aber nicht so stark, wie ich mich in Gríma einfühlen kann – zumindest meinen Headcanon, der sich im Laufe der Jahre entwickelt hat.
Ich bin also immer noch ratlos und werde wohl noch weiter darüber nachgrübeln und mich gleichzeitig so sehr über sie ärgern.

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