Sonntag, 31. Mai 2020

Das Interview oder Wenn Charaktere stumpf seitenlang erzählen können, ohne unterbrochen zu werden

And the interviewee became the interviewer. [...] We realized that many other people who had touched Tove's life had also touched mine.
- Tove Jansson: Work and Love by Tuula Karjalainen

Ich mag Dialoge. Das liegt unter Anderem daran, dass die Charakterzeichnung in Dialogen meist ein wenig subtiler verläuft, und dass Dialoge meist der Zeitpunkt sind, in dem ein Charakter auf einmal zu leben beginnt und eigenständig einfach Entscheidungen trifft. Wie man durch den Tonfall einer Figur allein schon manches Mal ihre Hintergründe erahnen kann.
Und deshalb ist eine Sache, die mich in der Fiktion immer mal wieder stört, das klassische Interview.


Im Grunde wird die Geschichte, die Rahmenhandlung, nur angedeutet, damit der eigentliche Charakter ohne Pause lang und breit über sein Leben erzählen kann. Warum dann nicht gleich die Geschichte aus der Sicht des wichtigen Charakters erzählen, wenn die Rahmenhandlung ohnehin nur dazu da ist, um unnötige Spannung zu wecken? Das hat mich so dermaßen beim Namen des Windes von Patrick Rothfuss gestört - die Rahmenhandlung mit dem Chronisten war so viel spannender und interessanter!! Aber nein, wir müssen dem Kvothe-Gary-Stu zuhören!
Dabei ist es gerade der Austausch zwischen Interviewer und Interviewtem, der interessant ist, der den Charakter beider Figuren beleuchtet - und dem Interviewten vielleicht sogar noch etwas mehr Charakter gibt, anstatt ihn unzuverlässig die Geschehnisse aufzurollen lassen, die natürlich in der Kindheit anfangen, an die er sich ganz sicher detailreich und chronologisch erinnern kann...
Natürlich ist meist der Interviewer ein Platzhalter; ein Charakter, der mit Absicht relativ blass gehalten wurde, damit der Leser sich gut in ihn einfinden kann. Aber ist das im Grunde nicht... zu einfach?

Es gibt sicherlich gute Ausnahmen (mir fallen spontan keine ein). Und natürlich hat es etwas mit Respekt zu tun, einen Charakter, der explizit darum gebeten hat, nicht unterbrochen zu werden, ausreden zu lassen, aber... für fünf Kapitel am Stück? Ich will nicht lesen, was dem Charakter passiert ist; ich will seine Reaktion auf die Dinge sehen, die er erzählt. Ich will sehen, wie er kurz stockt, als er von seinen ermordeten Eltern erzählt, oder wie dem Interviewer auffällt, dass er so dermaßen abgestumpft ist, dass gar keine Reaktion kommt. Ich möchte über das leichte Lächeln lesen, welches der Interviewer auf dem Gesicht seines Gegenübers erhascht, als er von einer angenehmen Erinnerung erzählt; ich möchte darüber lesen, wie der Interviewte unbewusst einen Gegenstand in seinen Händen dreht oder in irgendeine Ecke des Raumes starrt bei einer schmerzvollen Erinnerung. Wie der Charakter dem Interviewer trotzig auf einmal in die Augen blickt und der Interviewer dadurch weiß, dass der Charakter ihn gerade anlügt (oder ihn nonverbal herausfordert, weil er weiß, dass es unglaubwürdig klingt, was er gerade gesagt hat). Wie der Befragte sein Gegenüber unvermittelt nach etwas fragt und dadurch den Fokus von sich selbst ablenkt, wie der Interviewer darüber nachdenken muss, inwieweit er auf die Ablenkung eingehen möchte/muss und was genau er sagt, um das Gespräch nicht allzu weit vom ursprünglichen Thema abschweifen zu lassen. Wie er überlegt, welche Fragen er als Nächstes stellt.

Der Vorteil bei dieser Methode - man beleuchtet automatisch gleich zwei Charaktere zum Preis von einem! Man sieht, wie der Befragte auf andere Personen reagiert! Man kann Reflektion einbauen und den interviewten Charakter gleich mit seinen Taten konfrontieren! Man kann kritische Fragen stellen!
Der Nachteil - man läuft Gefahr, das in einen leeren Raum laufen zu lassen. Durch die Erzählung und das nicht-bewegen der Charaktere wird das Ganze abstrakt. Wenn man es geschickt anstellt, kann man das natürlich umgehen, aber das kann... schwierig werden. Man muss Pausen im Gespräch einbauen, den Blick des Interviewers ab und an schweifen lassen. Im Hintergrund kleine Dinge passieren lassen, damit der Leser ein Gefühl für die Zeit bekommt, die vergeht.
Sicherlich ist das anstrengender, weil man sich hierbei eben nicht auf seinen Lieblingscharakter konzentrieren kann. (Was mich wieder zu der Frage bringt, weshalb man nicht gleich aus der Sicht seines Lieblingscharakters schreibt.) Aber sofern man nicht im Grunde einen Protokollschreiber als Interviewer hinsetzt, der die Geschehnisse einfach nur diktiert bekommt und selbst nicht wirklich darüber nachdenkt (was mir etwas langweilig für eine Geschichte erscheint) oder den Interviewer gleich weglässt und den Lieblingscharakter einfach ein Buch schreiben lässt (wäre das nicht einfacher?), ist es notwendig, den Interviewer ebenfalls zumindest einen Funken Charakter haben zu lassen!
Ich bin jetzt wieder so angefressen, dass es sicherlich darauf hinausläuft, dass ich selbst etwas darüber schreibe. Wir werden sehen.

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